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Indien: Riots in Kaschmir

Die rebellischen Kids von Srinagar

19. August 2010 | Lange Zeit war es ruhig in Indiens nordwestlicher Krisenprovinz. Doch nun hat das Vorgehen indischer Truppen die Lage verschärft – und eine neue Protestbewegung entstehen lassen.

Text: Joseph Keve, Bombay, Übersetzung: Pit Wuhrer

49 Tote in 49 Tagen, darunter zwanzig Teenager, zwei junge Frauen, zwei Kinder; zweihundert Verletzte innerhalb einer Woche, hundert zerstörte Wohnhäuser, ein Dutzend niedergebrannte Regierungsgebäude – das ist die vorläufige Bilanz eines Konflikts, der in den letzten Wochen wieder aufgeflammt ist. Und der jetzt eine ganz andere Form angenommen hat. Bis vor wenigen Jahren noch hatten sich in der vorwiegend muslimischen Region indische Truppen und islamistische Aufständische bekriegt, die von Pakistan unterstützt wurden. Nun aber explodieren keine Bomben mehr, es gibt keine Schusswechsel. Es regnet Steine und Tränengasgranaten.

Seit ihrer Unabhängigkeit vor über sechzig Jahren beanspruchen Indien und Pakistan das ehemalige Fürstentum im Himalaja. Drei Kriege haben die beiden Staaten um Kaschmir geführt (1948, 1969, 1999) – und eine politische Lösung ist weiterhin nicht in Sicht. Das ständige Tauziehen zwischen Neu-Delhi und Islamabad, die gegenseitigen Beschuldigungen und der rein militärische Blick auf den Konflikt haben bisher alle Verhandlungen scheitern lassen. Die indische Regierung betrachtet Kaschmir als integralen Bestandteil des indischen Staates und ist bereit, dafür weitere Kriege zu führen. Wie ihre Vorgängerinnen sieht sie in einer Truppenverstärkung das einzige Rezept; für Neu-Delhi sind alle, die Indiens Anspruch bezweifeln, nur Unruhestifter. Für die Regierung und die Militärs in Islamabad wiederum geht es im Konflikt nicht nur um ein Territorium; es geht auch um das Selbstverständnis Pakistans als Staat der MuslimInnen im Westen des Subkontinents.

Jeden Tag Scharmützel

Auf die Kaschmiris nehmen die beiden Atommächte dabei wenig Rücksicht. Die Bevölkerung bekam die Angriffe der Separatisten genauso zu spüren wie die Repression der indischen Staatsmacht. Mittlerweile hat Pakistans Unterstützung für die islamistischen Freischärler nachgelassen (Islamabad hat derzeit andere Sorgen). Die indischen Truppen aber schikanieren weiterhin die Kaschmiris, die sich zudem von ihrer Regionalregierung im Stich gelassen fühlen: Ihr Chefminister Omar Abdullah, der in dritter Generation der National Conference Party vorsteht und mit der Kongresspartei den Bundesstaat regiert, meidet derzeit die Innenstadt von Srinagar.

Begonnen hatte die jüngste Runde im Kaschmirkonflikt Mitte Juni, als neben dem siebzehnjährigen Tufail Ahmed Matto eine Tränengasgranate explodierte. Der Student, er kam gerade von einer Vorlesung, starb – und mit ihm starb die Hoffnung, dass Abdullahs seit anderthalb Jahren amtierende Regionalregierung etwas Stabilität bringen könnte. Die Lage in Kaschmir sei nicht mit der von 1990 oder 2000 vergleichbar, als die Angriffe der Separatisten besonders heftig waren, analysierte am vorletzten Wochenende ein indischer TV-Reporter. Die Mudschaheddin spielten heute nur eine Nebenrolle. In der Hauptrolle agiere «eine ganze Generation von Jugendlichen, die vom Vorgehen der Staatsmacht radikalisiert wurden».

Laut zahlreichen Augenzeugenberichten beginnen die Tage in Srinagar, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir, in drückender Stille. Kaum ein Mensch ist auf den Strassen, die Geschäfte und Schulen sind geschlossen. Allmählich versammeln sich die Kids, einige erst zehn oder elf Jahre alt. Gegen Mittag ist es mit der Ruhe vorbei. Rufe werden laut, 200, manchmal 500 Jugendliche bewegen sich, Steine in der Hand, feuchte Tücher um den Kopf geschlungen, auf die nächste Polizeitruppe zu. Dann fliegen die ersten Steine, die Polizei weicht zurück, die Jugendlichen stossen nach. Plötzlich heulen Sirenen, Armeefahrzeuge tauchen auf, die bewaffnete Ordnungsmacht schiesst mit Tränengas und rückt gegen die Protestierenden vor, die in den Seitenstrassen verschwinden und sich aufs nächste Scharmützel vorbereiten. Irgendwann sind beide Seiten erschöpft, die Zeit der Ausgangssperre beginnt, und am nächsten Morgen geht es von vorne los.

Immer nur von oben

Die Radikalisierung hat ein junger Journalist aus Delhi selber mitgemacht. «Kaum war ich ein paar Tage in Srinagar, packte auch mich diese Mischung aus Wut und Hoffnungslosigkeit», schrieb Hilal Mir vor kurzem in der Tageszeitung «Hindustan Times». Er war mit anderen Journalisten «während der Ausgangssperre in den verlassenen Strassen unterwegs, als uns ein Soldat stoppte. Ein Kollege zeigte ihm die von der Regierung ausgestellte Sondergenehmigung. Der Soldat nahm das Papier, zerriss es und schrie: ‹So, und wo ist jetzt deine verdammte Genehmigung?›». Kurz danach warf Hilal Mir ebenfalls Steine.

Eine Lösung könnte nur ein Mitspracherecht jener Menschen bringen, die die Last des Konflikts seit über sechs Jahrzehnten schultern müssen. Als sich bei der gewaltsamen Teilung des Subkontinents 1947 der damalige Fürst sowie Omar Abdullahs Grossvater, Scheich Mohammed Abdullah, auf Indiens Seite schlugen, stellten sie ein Referendum in Aussicht – ein Versprechen, das der damalige indische Ministerpräsident Jawaharlal Nehru mehrfach wiederholte. Eingelöst wurde es bis heute nicht, obwohl sich auch die Uno 1948 dafür aussprach. Über sechzig Jahre später hat Neu-Delhi noch nicht einmal begonnen, die Bevölkerung an einer Diskussion über die Zukunft Kaschmirs zu beteiligen.